Ein Bergkristall entsteht über tausende Jahre. Seine Reinheit hängt von vielen Faktoren ab und ist in vielen Kulturen der Erde von großer Bedeutung. Er soll durch die Symbolik der Vollkommenheit von negativen Energien befreien und heilende Eigenschaften haben. Nun ist ein Gedanke in seiner ersten Instanz meist nur eine Andeutung von etwas Großem. Mit der Zeit wächst aus einem Gedanken eine Idee, ein Traum, ein Ziel – es wächst womöglich ein kleiner Bergkristall!
Die Seele des Berges
Den genauen Moment des ersten Gedankens nachzuvollziehen ist nicht immer einfach. Eine Reise zurück in der meine Geschichte lässt die Möglichkeiten fast unendlich erscheinen. Da war ich als Kind in den österreichischen Alpen, fasziniert von kleinen Klettereien, die über Baumhäuser und Klettergerüste hinaus gehen. Da ist die Weite des Meeres, die mich immer wieder auf Gipfel treibt, um einen Versuch zu starten, dahinter zu schauen. Da ist die Herausforderung und noch viele kleine Dinge. Ein Meer aus Gedanken schwirrt ungeordnet durch den Kopf. Ich suche meine Vollkommenheit, mein Wunsch negative Energien abzulegen und positive Erfahrungen in mich aufzusaugen. Es ist ein Meer aus flüssigen und flüchtigen Gedanken und Ideen, die den Grundstoff für den Bergkristall bilden – gefüttert von Erlebnissen, von positiven und negativen Gedanken, von Bildern, Geschichten und Träumen.
Drei Leuchttürme in meinem Meer ragen besonders hervor. Es ist der April 2013, nur wenige Wochen vor meinem Wanderurlaub in Nepal verletzte ich mich so schwer, dass ich meinen Urlaub absagen musste. Es folgen Monate in Reha. Immer mit dem Ziel, meinem Körper danach zu beweisen, dass es weiter gehen kann. Nur sechs Monate später hebt mein Flieger ab. An Bord sitze ich mit viel Unsicherheit. Wird die Wanderung im Himalaya gut gehen? Ist es nicht zu viel und was passiert wenn? Das Meer der Gedanken füllt sich und negative Verunreinigungen werden langsam an den Rand gedrängt und der Wunsch nach mehr wächst.
Etwas über ein Jahr nach meinem Unfall, es ist der 13.08.2014 sitze ich in einem Café. Mir gegenüber sitzt eine Dame, der ich viel Bewunderung entgegenbringe. Ihr persönlicher Einsatz auf allen Ebenen ihres Lebens, ihre Risikofreude, ihre klare Linie begeistern mich. Wir essen einen Salat und trinken Café. Die Sonne scheint und eine frische Brise weht uns um die Ohren. Ich erzähle von meiner letzten Tour in den Bergen und sie von ihren Erfahrungen. Sie pflanzt mit ihren Erzählungen eine Idee in das Meer. Eine einsame Ideeninsel, scheinbar unerreichbar von allen Seiten. Vage Vorstellungen von dieser Insel lassen mich träumen. Aus der Idee wächst über die Zeit ein kleiner Bergkristall, gut gehütet und verborgen hinter der mächtigen Fassade des Alltags kann er sich entwickeln – es ist mein Traum von diesem einen Berg – dem mächtigen Aconcagua!
Es dauert fast zwei Jahre, bis ich den Kristall aus meinen Tiefen bergen kann. Und wieder ist es ein Gespräch. Dieses mal mit Christian. Wir vereinbaren lose eine Absichtserklärung – das Ziel ist geboren.
Schmelzendes Eis
„Kristall“ stammt von dem griechischen „krystalos“, dem „Eis“, das niemals schmilzt. Der Kristall steht nun in Schaufenster meines geistigen Auges. Er wird beleuchtet durch die Sonne und glänzt wie das Gletschereis, das ich mir an den Flanken des Aconcagua vorstelle. Aus dem Ziel entwickelt sich ein Plan und es wird schneller Oktober 2017, als dass ich sehen kann. Das ganze Jahr haben Christian und ich geplant, mit Orten wie auf dem Bazar gehandelt und Kontakt gesucht – immer unser Ziel vor Augen. Ich taufe die Reise „Expedition 6000“. Es wird eine Expedition an unsere Grenzen und zu unserem Ziel dem Aconcagua. Wir steigen langsam in die Höhe. Erst 4000m, dann 5000m und Ende November überschreiten wird die 6000m-Marke. Es sind Grenzgänge für unsere Motivation und Leidensfähigkeit. Mit jedem Höhenmeter steigt der Respekt vor unserem Ziel.
Wir sind weniger als zwei Wochen vom Aconcagua entfernt, da erreicht uns eine E-Mail von unserem lokalen Partner „Mallku Expediciones“ aus Mendoza. Die Parkverwaltung des Aconcagua hat die Regularien geändert und wir müssen eine Extremsportversicherung vorweisen. Die Unsicherheit ist uns anzusehen. Uns wird nochmal direkt vor Augen geführt, dass eine Expedition zum Aconcagua kein Zuckerschlecken ist. Wir stellen uns einer Frage, die wir schon vor Monaten diskutiert haben. Wie sicher ist das Ganze? Während meine Einschätzung eher positiv ausfällt, ist Christian zunehmend unsicherer. Wir geraten unsichtbar aneinander. Das Thema beschäftigt uns und wir stellen uns die Frage, wie es weitergehen soll. Mein Bergkristall sieht fast so aus als würde er wie Eis schmelzen.
Die Grenze der Entscheidung
Nur noch wenige Tage trennen uns von Mendoza und somit dem Aconcagua. Nach unserem ersten 6000er, dem Acotango, steht die Organisation für den zweiten kräftezehrenden Gipfel, dem Parinacota. Mit über 6300 Metern ist er unsere Messlatte für den Aconcagua. Die Anspannung schlummerte den ganzen Tag zwischen uns. Wir entspannen in den Thermalquellen von Sajama, bereiten unsere Ausrüstung vor, diskutieren den Inhalt unserer Rucksäcke von Kleidung über Snacks. Definitiv keine Routine, aber aus welchen Gründen auch immer, habe ich keine Angst vor dem Berg. Es scheint machbar. Eine Tagestour ohne Abgründe. Die Gedanken sind verloren und Konzentration gewichen – so scheint es.
„Knack“ – das Eis bricht – der Bergkristall wird augenblicklich matt. Christian bricht die Stille mit einem Satz:
„Ich werde nicht mit auf den Aconcagua kommen!“
Ich sehe ihm an, dass ihm dieser Satz schwer gefallen ist. Schwerer die Entscheidung! Die Unsicherheit, die Gefahr und der Berg hat ihn beschäftigt. Ein Satz in einem Erfahrungsbericht hat ihn beschäftigt. Es sind die letzten Meter zum Gipfel des Aconcagua die ihn beschäftigen. Ich möchte am liebsten den Satz verdrängen, hoffe auf einen erfolgreichen Tag am Parinacota und darauf, dass es nicht an den letzten Metern scheitern wird. So lange haben wir uns auf diese Expedition vorbereitet, bis ins letzte Detail alles geplant und mit Freude die Reise genossen.
Selbst als unser Flieger La Paz verlässt und am nächsten Tag in Mendoza landet, fällt kaum ein Wort über seine Entscheidung. Ich schaue in einen matten Kristall. Wir stehen beide an einer Grenze der Entscheidung.
Stille
Wir sind erschöpft von dem Nachtflug und sind überfordert von Natalia, die vor Energie und Motivation nur so sprüht, als sie uns am Flughafen empfängt und uns noch im Auto die Registierungsformulare für die Expedition mit Mallku Expediciones überreicht. Wir wissen nicht was wir sagen sollen, geschweige, was wir uns sagen sollen. Ich stehe unter Schock, hoffe und bange immer noch, dass Christian sich umentscheidet. Überreden und zwingen schließe ich von Anfang an aus. Ich bin dennoch ohne auch nur zu überlegen immer noch Feuer und Flamme für die Besteigung. Ich will diesen Berg, meinen Bergkristall, bezwingen.
Als wir zu Fuß zum Büro von Victor, dem Gründer von Mallku Expediciones, gehen, müssen wir wohl oder übel sprechen. Aber weit kommen wir nicht. Es bleibt eine unsichtbare Grenze. Mit Motivation und voller Elan begrüßt uns Victor und stellt uns Herman unseren Guide vor. Er sprüht nur vor Freude, uns zu sehen.
Die Stimmung kippt augenblicklich, als Christian Victor einbremst und seinen niederschmetternden Satz wiederholt. Victor und Herman versuchen verzweifelt Christian zu überzeugen, während ich einen stillen Tod sterbe, als Victor bezweifelt, dass die Expedition ohne Christian stattfinden kann.
Wir gehen in Unsicherheit auseinander. Christian hält an seiner Entscheidung fest und ich weiß nicht, was ich tun kann. Ich halte an meinem Traum fest!
Herman begleitet uns zurück ins Hostel und prüft trotz aller offenen Punkte unsere Ausrüstung auf Vollständigkeit und Tauglichkeit. Als er uns verlässt, fallen wir zurück in eine Art Schweigen. Wie soll es weitergehen? Wir schweigen uns zu dem Thema an. Und so sitzen wir im Hostel zusammen und warten einfach nur auf eine Nachricht von Victor mit Optionen. Und eine der Optionen öffnet uns die Tür für unsere sich trennenden Wege.
Getrennte Wege
Der Druck der letzten Tag fällt mit einmal ab, als wir wieder in Victors Büro sitzen. Wir werden getrennte Wege gehen. Ich werde in Richtung Aconcagua aufbrechen und Christian in Richtung Buenos Aires. Während Christian zum Hostel zurück kehrt und seinen neuen Pfad plant, führen mich Herman und Natalia durch die administrativen Schritte, die am Ende mit der „Permit“, der Aufstiegserlaubnis, belohnt werden. Mein Bergkristall scheint wieder, die Risse der letzten Tage sind einer glänzenden Oberfläche gewichen.
Als ich am nächsten Tag zum Höhepunkt der Expedition 6000 aufbreche, sind alle bisherigen Sorgen vergessen. Die Aufregung weicht der Vorfreude auf 15 Tage am Berg mit Aussicht auf einen Gipfelerfolg. Ich bin zurück an dem Punkt, an dem ich vor sechs Jahren schon einmal hinter einem Holzgeländer stand und auf die mächtige Südwand des Aconcagua blickte, ohne auch nur die geringste Idee zu haben, dass ich diesen Berg je besteigen werde. Die Hochachtung, die ich damals den Bergsteigern entgegenbrachte, die diesen mächtigen Berg, einen der Seven Summits, besteigen, ist nun meinem Respekt vor dem Berg gewichen.
Ich genieße den Moment und die ersten realen Schritte auf dem Weg zum Gipfel…
Diese Expedition wurde unterstützt von Mallku Expeditions in Mendoza.
Die Route
Podcast der Expedition
Du möchtest die ganze Geschichte auf deine Lauscher? Als besonderes Highlight gibt es die Expedition als Podcast von „Radioreise“ mit Alexander Tauscher. Einfach dem Link folgen.
Expedition 6000+
Dieser Artikel ist Teil meiner Serie „Expedition 6000+„. Sie führt zwei Monate durch die schönsten Wanderregionen Südamerikas von Patagionen, Bolivien bis zum höchsten Punkt der Reise, dem Aconcagua in Argentinen. Folge der Reise und genieße die weiten Landschaften, hohe Berge und die abwechslungsreiche Kulturen Südamerikas.
Magst du diesen Artikel? Teile ihn auf...