Aconcagua – Von Willen

Die Natur des Willens ist auf vielen Ebenen betrachtet eine Reflektion des Selbstbewusstseins. Um einen Willen zu entwickeln, sind Ziele unabdingbar und dieses ist für die anstehende Expedition auf den Aconcagua klar definiert. Die Umsetzung dieses Willens wird in den nächsten Tagen viel Willensstärke, Leidensfähigkeit, Durchhaltevermögen und Konzentration erfordern.

Dornen im Tal

Immanuel Kant würde vielleicht über die nächsten Tage philosophieren und sie als „eine Art von Kausalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind“ bezeichnen. Dabei sind, wie in seiner Erörterung, die Freiheit und der Wille miteinander verschlungen. Diese Idee von Freiheit erlebe ich gerade an den Flanken des Aconcagua. Ob das alles hier vernünftig ist? Manch einer würde es als verrückt bezeichnen, als lebensmüde, als etwas, das nicht greifbar oder verständlich ist. Für mich ist die Besteigung des Aconcagua ein Traum, der sich endlich erfüllt; ein Ziel, das ich mir vor langer Zeit gesteckt habe und auf das ich Monate lang hingearbeitet habe. Jetzt zurückweichen vor der Herausforderung wäre definitiv ein Schritt zurück. Ich stelle mich meiner Herausforderung mit ungebrochenem Willen, Vertrauen und Respekt.

Flußlauf im Tal

Das Leben

Von Confluencia, dem ersten Camp entlang der 24 Kilometer von der Zivilisation zum Basislager, windet sich der Pfad zuerst durch einen Canyon. Tief gegraben durch den ständigen Abfluss des Gletscherwassers verbindet eine kleine Brücke die beiden Ufer. Danach steigt es steil aus dem Canyon heraus an bis der Weg in einer langen Ebene mündet. Zur rechten und linken Seite steigen die Bergflanken steil an. Die Geschichte der Berggesteine lässt sich an den Flanken minutiös ablesen. Für Geologen ein Einblick in die Erdgeschichte, für uns als Wanderer nur eine kleine Abwechslung in sonst mittlerweile tristes rötlich-grau des Untergrundes. Ein starker Wind weht uns entgegen und zwingt unsere Blicke gegen Boden. Das Gesicht und der ganze Körper ist verhüllt, um uns vor Staub und den starken Sonnenstrahlen zu schützen.

Blick ins Tal

Unmerklich steigen wir an. Ab dem „Piedre Ibanez“, einem Felsen am Ende der langen Ebene geht es merklich steiniger und hügeliger weiter. Nach etwas über sechs Stunden Fußmarsch erreichen wir das Basislager „Plaza de Mulas“ auf 4350 Höhenmetern. Matias, der Campmanager, empfängt uns mit einem kleinen Nachmittagssnack aus Wurst und Käse.

Käse und Wurst am Plaza de Mulas

Ich fühle mich in der Zeltstadt schnell wohl. Ich bin unterwegs mit „Mallku Expeditiones“ und der Eigentümer Victor, selbst Bergführer, hat in seinem Camp an alles gedacht. Zwar ist das Leben simpel, aber sein Team ist hochmotiviert. Auch Herman, mein Bergführer, behält den Überblick. Wir schlagen unsere Zelte auf und verstauen unsere Ausrüstung. Obwohl die Saison erst begonnen hat, ist in der Zeltstadt schon viel Getümmel. Maultierkarawanen erreichen täglich das Camp und bringen neue Zelte, Ausrüstung und Verpflegung. In der Hochsaison stehen hier über 200 Zelte. Jetzt ist noch Platz.

Plaza de Mulas

Hier treffen wir auch wieder auf die vier Argentinier, die wir schon aus dem Camp Confluencia kennen. Wir sitzen zusammen, trinken Matetee und unterhalten uns. Es ist eine unmittelbare Freundschaft, die entsteht und hier am Berg, in der Abgeschiedenheit alles zusammenhält und in allen Situationen Unterstützung sichert. Von Kleinigkeiten aus der Küche, über die Übermittlung von Funksprüchen bis hin zu der Gewissheit, dass man am Berg nicht alleine ist.

Matias im Kochzelt

Als der Tag zu Ende geht verabschieden wir uns in unsere Zelte. Der Wind hat weiter aufgefrischt und rüttelt an der Zeltplane. Ich krame meine Ohrenstöpsel heraus und versuche, in der Höhe einen erholsamen Schlaf zu finden. Als mich meine Blase drückt und mich aus dem warmen Schlafsack holt, steht der Vollmond über dem Camp und die Sterne sind klar erkennbar. Ein Anblick, der mir leider aufgrund der Kälte nur kurz zusteht.

Plaza de Mulas bei Nacht

Der Rundweg

Am Pausentag erreicht uns eine Wettervorhersage und schwere Entscheidungen liegen vor uns. Mit einer anderen Gruppe zusammen beraten wir über unsere Optionen. Viel Spielraum bleibt uns nicht. Es holen uns mindestens drei Tage schlechtes Wetter ein und werfen die ursprüngliche Planung über den Haufen. Wir entscheiden uns, alle Vorkehrungen zu treffen, nicht das normale Programm zu laufen, sondern den Gipfeltag um drei Tage vorzuziehen. Da sich das Wetter aber immer wieder ändern kann, wollen wir noch die Wettervorhersage vom nächsten Tag abwarten.

Abmarsch zum Gipfel

Wir schultern jeweils 10 Kilogramm Essen, Gas und Benzin und machen uns auf den Weg in die Hochcamps. Wir passieren Canadá, das erste Hochcamp auf 5050 Metern, und steigen weiter zum zweiten Hochcamp Nido de Cóndores, dem Nest der Kondore, auf 5570 Metern. Hier werden wir von einem starken Wind empfangen, der unsere geplante Mittagspause zunichte macht und wir nur schnell unserer Gepäck ablegen und mit Steinen vor dem Wegfliegen sichern. Zurück im Basislager treffen wir die Entscheidung statt eines geplanten Pausentages, den Aufstieg am nächsten Tag wieder zu unternehmen und im Nido de Cóndores das Lager aufzuschlagen.

Nido de Cóndores

Auch treffen wir die Entscheidung, nicht weiter ins dritte Hochcamp aufzusteigen, sondern den Gipfelversuch von Nido de Cóndores aus zu wagen. Eine mutige Entscheidung, da dies am Gipfeltag bedeutet, 300 Höhenmeter mehr und mindestens ein-ein-halb Stunden länger zum Gipfel zu brauchen. Alles wertvolle Kraft, die ein Scheitern wahrscheinlicher macht. Aber unser Wille ist stark und erholt sich am letzten Pausentag vor dem Gipfel, soweit man sich auf 5600 Metern und einem kleinem Ausflug in Richtung drittes Camp noch erholen kann. Über Funk kommt ein letztes Mal die Nachricht über das Wetter: 15 bis 20 km/h Wind und klar. Perfekte Bedingungen für einen Gipfelversuch.

Kochen im Zelt

Nido de Cóndores bei Sonnenuntergang

Der Gipfel

Es ist drei Uhr als der Wecker klingelt. Herman gibt mir einen kleinen Stoß und ich bin sofort wach. Ich habe zwar gut geschlafen, aber nicht wirklich viel. Im Schlafsack war es ungewöhnlich unbequem. Heute mussten Trinkflaschen, Batterien, Schuhe und Kleidung mit im Fußraum übernachten. Wer will schon mit eingefrorenem Wasser, kalten Schuhen und klammer Kleidung einen Gipfelversuch starten. Zum Frühstück gibt es etwas Müsli mit Milchpulver und Tee. Danach schlüpfe ich langsam in die Klamotten – Fleeceunterhose, Expeditionssocken, Hose, Thermohemd, Fleece, Regenhose, Regenjacke und am Ende noch in die dicke Expeditionsdaunenjacke. Zum Schluss noch die inneren Handschuhe und darüber die dicken Daunenhandschuhe. Die Mütze sitzt mir tief im Gesicht, als wir uns um 4:20 Uhr den Rucksack auf den Rücken schnallen und das Zelt hinter uns lassen.

Sonnenaufgang in Berlin

Um 5:55 Uhr erreichen wir fit, aber leicht kalt, Berlin, das dritte Hochcamp. Wir genießen den Sonnenaufgang und beobachten den Erdschatten mit seiner kleinen Ausbuchtung mit dem Schatten des Aconcagua. Das erste Mal Sonne genießen wir während der Pause an den Piedras Blancas, bevor es im ermüdenden Zick-Zack zu der alten Schutzhütte Independencia auf 6350 Metern geht. Im richtigen Atemrythmus fällt der langsame Aufstieg noch verhältnismäßig leicht.

Independencia

Gegen 9:45 Uhr verlassen wir Independencia mit Steigeisen unter den Füßen. Sie machen jeden Schritt zu einer Konzentrationsübung. Hängen bleiben, sich vertreten oder stolpern sind ein Leichtes und können hier schnell zu einem Problem werden. Der Kopf arbeitet auf Hochtouren, der Wille wird hart beansprucht und Herman gibt sportliche Zwischenziele aus. Mittlerweile hat die Kraft nachgelassen und die Traversia, eine lange Querung, ist mühsam. Irgendwo müssen die letzten 600 Höhenmeter herkommen. Ich hatte mich eigentlich auf eine angenehme Querung gefreut, aber es geht stetig bergan. Erst an der Cueva, der Höhle, gönnen wir uns etwas über sieben Stunden nach dem Verlassen des Zeltes eine längere Pause. Meine Fersen tun langsam weh, aber ein Blick in den Schuh beruhigt. Es ist nicht so schlimm, wie es sich anfühlt, aber dafür ist es eine Qual den Schuh wieder anzuziehen. Statt Bilder zu machen und die Aussicht zu genießen, bin ich mit mir selbst beschäftigt.

La Cueva

Die letzten 300 Höhenmeter werden zu einem Balanceakt. Mit Steigeisen quälen wir uns den steilen Hang, der Canaleta, hinauf, balancieren über größere Felsen und genießen fast die Eisfelder dazwischen. Auf halbem Weg rege ich an, ohne Steigeisen weiter zu gehen. Wertvolle Minuten verstreichen bis die Steigeisen sicher verstaut sind, aber es lohnt sich. Wir kommen besser voran.

Aufstieg in der Canaleta

Am oberen Ende der Canaleta treffen wir auf zwei der vier Argentinier. Sie sind auf dem Rückweg vom Gipfel. Die anderen beiden sind nicht über Nido de Cóndores hinaus gekommen, die Höhenkrankheit hat sie dort in die Knie gezwungen.
Wir unterhalten uns kurz, doch die Argentinierin sieht nicht gut aus, sie redet Unfug und ist schwach. Sie müssen weiter – wir auch. Wir ziehen die Steigeisen wieder an und queren den Filo del Guanaco. Mittlerweile ist mein Atemrythmus nicht mehr synchron mit meinen Schritten und viele kleine Pausen sind die Folge. Der Gipfel ist schon in Sicht und dennoch gefühlt sooo weit. Es trennen uns nur noch ein steiler Anstieg über ein Eisfeld und ein letztes Geröllfeld.

Panorama am Gipfel des Aconcagua

Etwas stolpernd erreichen wir gegen 15 Uhr den Gipfel. Die Erschöpfung ist mir anzusehen und ich lasse mich auf einem Stein in der Nähe des Gipfelkreuzes fallen. Mir kommen Gedanken an den Elbrus. Am Gipfel konnte ich meine Emotionen nicht mehr halten. Hier ist es ähnlich. In den ersten Minuten verschwimmt die Landschaft in Freudentränen. Mein Wille hat mich hier hoch getragen. Er war eine schwere Last, die jetzt von meinen Schultern weicht. Ich stehe auf und kann nun das Panorama genießen. Auf dem Dach Südamerikas in 6962 Metern scheint alles andere klein. Wir haben unheimliches Glück, kaum Wind und Wolken. Die Sicht ist atemberaubend. Es ist ein toller Moment und nur so kann ich mir erklären, dass die 50 Minuten am Gipfel vorbeiziehen, als wären sie Wolken im Sturm.

Gipfelfoto am Aconcagua

Der Flug

Mit den letzten Bildern vom Gipfel verabschieden wir uns wieder und treten den Rückweg an. Es werden anstrengende und zermürbende Stunden des Abstiegs. Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Mein Nacken verspannt sich schon nach knapp einer Stunde und lässt jeden Schritt abwärts zu einer höllischen Qual werden. Mir ist sogar egal, als uns plötzlich Schnee umweht und ich meine Jacke nicht mehr zu bekomme. Ich möchte nur noch runter. Ab Independencia wird es ohne Steigeisen wieder einfacher. Mittlerweile sind schon über 15 Stunden vergangen. Ich trotte nur noch vor mich hin. Das Zelt will einfach nicht näher kommen. Und dann passiert es, ich rutsche auf einem gerölligen Stück aus und verliere die Balance. Ich falle in meinen Wanderstock, der sich unter der plötzlichen Last verbiegt und mich beim Durchbrechen den Hang hinunter schickt.

Nichts ist passiert. Zum Glück. Herman drückt mir einen seiner Stöcke in die Hand und ich balanciere weiter. Kurz unterhalb des dritten Hochcamps fallen mir drei Personen auf, die eng zusammen laufen. Es sind die Argentinier und ein weiterer Bergführer. Die Argentinierin ist mittlerweile stark von der Höhenkrankheit betroffen und kann kaum noch laufen. Ich bin froh, dass ich es noch kann. Auch wenn mittlerweile alles schmerzt. Die Sonne geht gerade unter, als wir nach 16,5 Stunden wieder das Zelt erreichen. Ich bin heil froh und glücklich wieder unten zu sein.

Herman

Als wir am nächsten Tag unsere Zelte in Nido de Cóndores abbrechen, ist die Argentinierin schon wieder fit. Meine Schmerzen sind auch wieder Vergangenheit. Mit Freude, etwas Stolz und dem Wissen, dass sich das Vertrauen und der Wille ausgezahlt haben, schreiten wir zurück ins Basislager. Ich habe mein Ziel erreicht!

Abstieg vom Camp

Nur wenige Tage später sitze ich im Flugzeug von Mendoza nach Santiago de Chile. Zu meiner Rechten werden die Berge immer höher bis ich aus den kleinen Fenstern den Aconcagua erspähen kann. Massiv liegt sein Gipfel fast auf Reiseflughöhe. Es ist ein toller und bewegender Abschied von einem Berg, von dem ich vor einigen Jahren nur träumen konnte!

Aconcagua aus der Luft

Diese Expedition wurde unterstützt von Mallku Expeditions in Mendoza.

Die Route

Podcast der Expedition

Du möchtest die ganze Geschichte auf deine Lauscher? Als besonderes Highlight gibt es die Expedition als Podcast von „Radioreise“ mit Alexander Tauscher. Einfach dem Link folgen.

Expedition 6000+

Dieser Artikel ist Teil meiner Serie „Expedition 6000+„. Sie führt zwei Monate durch die schönsten Wanderregionen Südamerikas von Patagionen, Bolivien bis zum höchsten Punkt der Reise, dem Aconcagua in Argentinen. Folge der Reise und genieße die weiten Landschaften, hohe Berge und die abwechslungsreiche Kulturen Südamerikas.

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