In den Hügeln Lothringens

Es soll nur ein kurzer Ausflug in das ländliche Frankreich werden. Gerade so viel, dass die Arbeit und die Alltagswelt vergessen werden kann, nicht aber so viel, dass der Weg zum Ziel wird. Und das kann schnell passieren. Frankreich, gefühlt unendliche Landstriche und sich hier zu verlieren, fällt nicht schwer. Bisher kenne ich Frankreich primär nur aus der Stadtperspektive. Nur selten habe ich es aufs Land geschafft. Ich bin jedes Mal wieder überrascht, welche Schätze die kleinen Städte und Landstriche zum Entdecken haben: von kleinen romantischen Kirchen und Marktplätzen, wohlgeformten Hügelketten und traumhaften Alleen. Es geht nach Lothringen.

Weit weg in Lothringen

Vent des Forêts in Lothringen

Meine Unterkunft wähle ich ziemlich wahllos. Die Kriterien: weit weg von allem, gemütlich und irgendwie originell. Ich werde mitten im Naturpark Lothringen fündig. Der Naturpark umfasst 193 Gemeinden und hat nur knapp über 70.000 Einwohner und mittendrin der „Lac de Madine“, ein recht großer See inmitten der Hügel, Wälder und Felder. Ohne Auto oder Fahrrad ist man hier aufgeschmissen und recht hilflos. Hier kommt man auch mit dem Bus nicht weit. „Le Domaine de Pomone“ ist die perfekte Unterkunft. Die Besitzerin führt ihr Landhaus mit großem Anwesen seit 16 Jahren. Nur vier Zimmer vermietet sie an Gäste. Das Frühstück ist sicherlich nicht mit dem eines Hotels vergleichbar, dafür aber hausgemacht und so typisch französisch, dass ich mir jegliche Beschreibung sparen kann.

Montsec

Zum Sonnenuntergang empfiehlt mir die Dame Montsec. Der Hügel überragt die Ebene mit dem Lac de Maine und ist ein Andachtsort für die Kämpfe des ersten Weltkrieges in der Region. Das Monument wurde von den Amerikanern in Andenken an die Kriegsschauplätze des Frontbogens von Saint-Mihiel erbaut. Ein erster Kontakt mit der Geschichte von Lothringen. Die Sonne versteckt sich hinter den Wolken und ein kühles Lüftchen zieht an mir vorbei. Es ist Sonntag und ich habe im Auto nur noch Snacks übrig. Ich picknicke in der sanften Version und blicke in die Ferne. Alt werde ich hier oben nicht. Es zieht mich zurück in die Unterkunft. Der akute Stressabfall zeigt erste Nebenwirkungen. Ich bin total platt.

Domaine de Pomone in Lothringen

Im charmanten Landhaus knarrt der Boden, als ich mein Zimmer betrete. Viele Gäste kann ich nicht stören, dennoch vermeide ich zu viel Bewegung. Wer weiß, wer sich beim gemeinsamen Frühstück beschweren wird. Serviert wird direkt im Raum nebenan. Eine ältere Dame betritt den Raum und wir frühstücken gemeinsam. Sie erzählt von dem Reitturnier ihrer Enkel im Nachbardorf, zeigt Bilder und gibt mir noch einige Empfehlungen für den Tag mit.

Im kleinen Dörfchen Hattonchâtel beginne ich meine Tour durch die Region. Auf einem kleinen Hügel gelegen hat die Gemeinde alte Wurzeln. Um 840 herum beginnt hier die Geschichte mit der ehemaligen Residenz des Bischofs von Verdun. Die Festung und Burg aus dem Mittelalter sind nicht mehr erhalten, dafür wurde an gleicher Stelle ein Hotel in altem Stil errichtet. Das kleine Dorf thront über der Region und der Blick über die Ebene ist großartig.

Kirche in Hattonchâtel

Kunst im Wald

Lange habe ich mit mir gerungen was ich noch so in einen Tag „quetschen“ möchte. Eigentlich sollte es ja ein ruhiger Tag werden und nicht zu viel hin und her. Von Hattonchâtel aus fahre ich also nach Saint-Mihiel, laufe kurz durch die am Feiertag leergefegte Stadt und schließlich in den Wald. Ich würde ihm gerne einen Namen geben, aber mehr als den Namen des Gesamtkunstwerkes habe ich nicht finden können. „Vent des Forêts“; – frei übersetzt „Waldwind“ – heißt die Freilichtausstellung mit Kunstwerken aus Holz, Eisen und Stein. Manche Kunstwerke sind eher auf Kurzlebigkeit ausgelegt, andere für etwas länger. Dennoch verschmelzen die Kunstwerke im Wald.

Vent des Forêts

Auf einer Karte aus der Unterkunft suche ich mir einen der vielen Wege aus. Farbige Wegmarkierungen führen mich dann von meinem Startpunkt einmal quer durch den Wald. Etwas komisch ist es schon, aber die Idee ist wundervoll. Ich kenne bisher nur wenige solcher Ausstellungen. In Waldenburg in Sachsen gibt es jährlich ein Wochenende, das sich der „Parkkunst“ widmet. Danach verschwinden dort die meisten Kunstwerke aber wieder. Hier im „Vent des Forêts“ bleiben die Dinge. Schon seit über 20 Jahren wird hier jedes Jahr etwas Kunst hinzugefügt. Fast 45 Kilometer Wander- und Fahrradwege verschmelzen Natur und Kunst. Würde mich nicht der Hunger wieder in das nächste Städtchen treiben, so würde ich hier noch eine ganze Weile verbringen können.

Vent des Forêts

Die Geschichte von Verdun

Der nächste Tag ist grau verhangen. Die Entspannung des gestrigen Tages schleppt sich mühselig mit mir mit. Vielleicht war es keine so gute Idee, den geschichtlichen Teil der Region auf den letzten Urlaubstag zu legen. Vielleicht reicht es, wenn ich das Wort „Verdun“ fallen lasse, um zu wissen, um welchen Teil der Geschichte es sich handelt? Ich hatte die Wahl zwischen der Altstadt von Metz und den Schützengräben des ersten Weltkrieges für diesen Tag.

Da ich etwas den Verdruss einer Stadtbesichtigung im Hinterkopf habe und mich irgendwie nicht danach fühle mit einem Auto in das Herz einer französischen Stadt zu fahren, fällt die Entscheidung auf Verdun beziehungsweise auf die Schauplätze der Schlachten um Verdun des ersten Weltkrieges. In der Nähe des kleinen Ortes „Les Éparges“ erklimme ich einen Hügel, der selbst nach 100 Jahren noch wie ein Schweizer Käse aussieht. Die Artillerie hat den Hügel damals in eine Kraterlandschaft verwandelt. Die Straße zum „Point X“ schlängelt sich regelrecht auf den Rändern der Krater.

Point X

Ungefähr 25 Kilometer weiter auf dem Hauptschlachtfeld von Verdun ragt das „Beinhaus von Douaumont“ weit über die Landschaft. In dem Hang vor der Kirche stehen tausende Kreuze auf den Gräbern der Gefallenen – ein bedrückender, mahnender Anblick. In der neu eingerichteten Ausstellung im „Mémorial de Verdun“ wird mir der Schrecken der Schlacht gnadenlos vor die Augen geführt. Jeder Bereich des Krieges und der Schlacht wird mit Exponaten unterlegt. Der volle Geschichtshammer am letzten Urlaubstag.

Beinhaus von Douaumont

Zurück im Auto tippe ich mein Zuhause in das Navi ein und lasse mich Richtung Norden leiten. Die Anzahl der Gedenksteine am Wegesrand nimmt mit jedem gefahrenen Kilometer ab und irgendwann hat mich die Landschaft wieder zurück in die Gegenwart geholt. Die sanften Kurven durch die Ardennen lenken mich ab.

Ich lasse Lothringen hinter mir – die Flucht aus der Stadt geht zu Ende.

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